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Kapitel 1

#eins
 
Ich stand vor einem Wasserfall, der in einen kleinen See mitten im Wald überging. Das Licht des Vollmonds spiegelte sich darin und betonte die unscheinbaren Wellen, die am Wasserfall entstanden und sich in sanften Kreisen ausweiteten. Fast sah es aus, als würde das Wasser spielerisch tanzen und mich dazu einladen wollen, es zu durchqueren. Dabei fiel mir auf, dass der Wasserfall nahezu die perfekte Höhe hatte, um unter ihm hindurch zu gehen.
Zuerst begann ich zu zögern, da ich keinerlei Ahnung hatte, was sich dahinter verbarg, doch dann setzte ich den ersten Fuß ins Wasser. Um ihn im nächsten Moment sofort wieder herauszuziehen - Autsch, war das kalt!
Ich schüttelte im Geiste den Kopf und versuchte mich zusammen zu reißen. »Lucina, du bist nicht den ganzen Weg durch den Wald gelatscht, nur um den Wasserfall zu bewundern. Es hatte einen Grund.«, ermahnte ich mich selbst. »Jetzt geh und sorg dafür, dass es nicht um sonst war!«
Erneut setzte ich meinen Fuß ins Wasser und sprang mit dem anderen gleich hinterher, bevor mein Angstgefühl wieder die Oberhand gewann. Ich musste die Zähne zusammen beißen, damit sie nicht anfingen, ununterbrochen aufeinander zu schlagen, so kalt war es. Als ich den Wasserfall erreicht hatte und direkt davor stand, zögerte ich erneut. Mir reichte es schon, dass meine Füße langsam, aber sicher zu Eiszapfen wurden, aber musste ich das wirklich meinem ganzen Körper antun?
»Augen zu und durch! Es ist nur für eine Sekunde! Jaden hätte es auch getan.« Bei dem Gedanken an Jaden begann mein Herz schneller zu klopfen. Vielleicht war das der Weg in die Freiheit? Ich wollte - abgesehen davon, Jaden wiederzutreffen - nichts lieber als frei zu sein. Also kniff ich die Augen zusammen, presste meine Kiefer noch stärker aufeinander und huschte hindurch.
Als das Wasser auf mich herab prasselte hielt ich die Luft an und zuckte für eine Sekunde zusammen, aber dann war es auch schon vorbei. Ich war von oben bis unten klatschnass, aber für den Anblick, der sich mir jetzt bot, hatte es sich gelohnt.
Vor mir führte ein Weg entlang, der aussah, als hätte er aus einem Märchenfilm stammen können. An beiden Seiten war er von pastellfarbenen Blüten gesäumt und rundherum war alles voller Pflanzen, die grün und frisch aussahen und nach Frühling rochen. Der Weg selbst bestand aus Holzbrettern, die stufenartig angeordnet waren und irgendwo hinter ein paar Büschen und Bäumen einen Schlenker machten. Hinter mir war ein kleiner See, der sich zu meiner Linken ausweitete und irgendwo weiter hinten zu einem Bach wurde. 
Und vor dem Weg...stand Jaden. Jaden? Ja er war es! Seine dunkelbraunen Locken fielen ihm lässig ins Gesicht und an seinen blauen Augen bildeten sich feine, wenn auch kaum sichtbare Fältchen, die er immer bekam, wenn er sich freute. »Luce« sagte er grinsend. An seinem strahlenden Lächeln erkannte ich, dass er sich mindestens genau so sehr freute, wie ich. Ich fiel ihm um den Hals und schmiegte meinen Kopf an seine warme Brust. »Wie schön, dass du mich gefunden hast«, flüsterte er in meine Haare hinein. Der Klang seiner tiefen Stimme hatte etwas Beschützendes, das mich augenblicklichentspannen ließ.
Ich blieb gefühlte Ewigkeiten so verharren und wollte mich am liebsten nie wieder von ihm lösen. Aber Moment mal. Jaden? Das war unmöglich!
Jetzt hob ich doch den Kopf und löste mich ein paar Zentimeter weit von ihm, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. Irgendwas war komisch. Ich blickte mich um und das Letzte, das ich wahrnahm, bevor alles vor meinen Augen verschwamm war das Raunen von Jadens Stimme in meinem Ohr. »Luce, bevor du aufwachst, denke immer daran: Gib nie auf. Ich warte auf dich
« 

Ich schlug die Augen auf. Ich war aufgewacht. Es dauerte eine Weile, bis ich das Bett abgetastet hatte und mir bewusst geworden war, wo genau ich mich befand.
Verdammt! Es war wieder nur ein Traum! Und wieder der Selbe, wie fast jedes Mal. Immer führte es auf das Gleiche hinaus: Ich lief durch den Wald, kam an einem Wasserfall an und überlegte, ob ich hindurch gehen sollte oder nicht. Und jedes Mal wachte ich auf. Allerdings wachte ich nicht immer zum selben Zeitpunkt auf. Nämlich erst dann, wenn mir bewusst wurde, dass ich gerade träumte und solange, wie diese Nacht schaffte ich es nur selten. Es passierte auch nicht oft, dass ich so weit kam, Jaden zu sehen. Heute war das zweite Mal gewesen, dass ich so viel mit ihm reden konnte.
Stirnrunzelnd dachte ich an das zurück, was er gesagt hatte. »Luce, bevor du aufwachst, denke immer daran: Gib nie auf. Ich warte auf dich« Ich drehte mich auf den Rücken und hielt mir eine Hand an die Stirn und die andere auf den Hinterkopf. Das tat ich immer, um besser nachdenken zu können. Es funktionierte besonders gut, wenn ich mir vorstellte, dass alle Gedanken, die meinen Kopf belasteten, einfach so zuerst von meinen Händen, durch meine Arme nach draußen strömten. 
»Bevor du aufwachst...« Woher um alles in der Welt, wusste er, dass ich gleich aufwachen würde? Ich zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich ist mein Unterbewusstsein einfach nur verdammt schlau. Aber trotzdem kaute mein Verstand weiter darauf herum. »Ich warte auf dich...« Was könnte er nur damit gemeint haben? Ich kaute gedankenverloren auf meiner Unterlippe herum, während ich mir den Kopf darüber zerbrach.
Diese Träume waren merkwürdig, auch wenn sie mir keine Angst machten, aber merkwürdig waren sie trotzdem. Zumal sie von Nacht zu Nacht intensiver wurden und jedes Mal länger andauerten. Das erste Mal, an dem ich es geschafft hatte, im Traum mit Jaden zu reden, hatte er mir von einem Ort erzählt, an dem ich nicht mehr anders sein würde. Ich wusste nicht genau, was er damit meinte. War das vielleicht eine Art...Botschaft gewesen? Eine Botschaft dafür, dass ich endlich losziehen sollte, um ihn zu suchen? Losziehen sollte, um endlich freizusein? Schon allein bei dem Gedanken daran, nicht länger im Heim gefangen zu sein, ging mir das Herz auf.
Ich musste so schnell wie möglich hier weg und das war mir schon mein ganzes Leben lang klar gewesen. Auch bevor Jaden abgehauen war. Aber wenn ich jetzt gehen würde, müsste ich verdammt vorsichtig und vorallem verdammt leise sein, um nicht alle aufzuwecken.
Ich zog den Vorhang des Fensters, das sich neben meinem Bett befand, beiseite und schaute sehnsüchtig nach draußen in den Nachthimmel. Ich hatte es schon immer geliebt, nachts den Blick zum Himmelszelt zu richten und die Sterne zu beobachten. Das Universum war etwas, das mich immer wieder aufs Neue faszinierte. Für mich war es unglaublich beruhigend, meinen Blick hinaus schweifen zu lassen. Und als würde mein Blick sie mit sich reißen, begannen auch meine Gedanken wieder zu schweifen.
Irgendwo da draußen waren meine leiblichen Eltern. Die Eltern, die mich, Lucina Divine, diesem Heim anvertraut hatten - was auch immer mit ihnen geschehen war. Ich hatte meine Eltern nie kennengelernt. Seit ich denken konnte, lebte ich in einem Kinderheim und wandelte von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, weil niemand mich wirklich haben wollte. Jedes Mal aufs Neue, wenn eine Familie mich zurück gab, wurde ich dafür beschuldigt.
Von den Erzieherinnen gab es nur Ärger und Bestrafungen. Bereits als ich vier war und die dritte Familie mich nicht mehr haben wollte, wurde ich als Problemkind abgestempelt. Ich war die Schuldige. Ich war diejenige, die Erzieherinnen zur Weißglut brachte und der Grund dafür, dass unschuldige Pflegeeltern verzweifelten. Dass jedoch ich diejenige war, die eigentlich verzweifelte, das interessierte niemanden. Ich als kleines Kind, nahm das natürlich alles so hin und eignete mir über die Jahre einen dickenfetten Minderwertigkeitskomplex an, den ich bis heute behalten hatte. Was mich wiederum noch mehr zu einem Problemkind werden ließ. Doch die Mühe, einmal den Schmerz, der hinter der Fassade brodelte, genauer unter die Lupe zu nehmen, machte sich niemand. Niemand - außer Jaden.
Jaden hatte das getan, was ich mich nicht einmal selbst getraut hatte. Und das war der Grund, weshalb wir uns so nahe standen. Ihm ging es genau wie mir. Er war mein bester Freund. Zumindest bis er verschwunden war.
Vor ein paar Monaten waren wir beide in Pflegefamilien untergebracht. In zwei verschiedenen, versteht sich. Zwei Problemkinder auf einem Haufen wäre ja schließlich unzumutbar. Doch als ich auch von dieser Familie wieder zurückkehrte, war für mich einer meiner schlimmsten Alpträume wahr geworden - nicht weil ich zurück gegeben worden war, sondern weil ich eine der schlimmsten Nachrichten erfuhr, die ich jemals hätte verkraften können.
Ich weiß noch genau wie ich vor drei Monaten mit meinem Koffer durch die Tür kam und dafür gewappnet war, dass er mich zur Begrüßung in seine Arme nahm. Doch nichts geschah. Jaden war nach seinem achtzehnten Geburtstag spurlos verschwunden. Man vermutete, dass er sich nachts aus dem Fenster geschlichen hatte, doch so genau konnte das niemand sagen, nicht einmal seine Pflegefamilie. Das hatte mich wie ein Messer ins Herz getroffen und ich wollte noch nie so sehr hier weg, wie in diesen drei Monaten. 
Jaden war einfach abgehauen und hatte mich hieralleine zurückgelasssen. In einem Jahr würde ich auch achtzehn werden und kurz darauf würde ich sowieso bald ein eigenes, unabhängiges Leben führen können, aber so lange wollte ich nicht warten.
Gleich morgen, wenn die anderen beim Essen waren, würde ich mich ins Zimmer schleichen, meine Sachen packen und heimlich verschwinden.
 

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